Bücher, Inspirationen, Lyrik, Zitate 16. März 2022

„Menschen können aber nicht wissen, wie es ist, als Adler durch die Lüfte zu ziehen, als Fuchs über die Wiesen zu tollen oder als Hirsch durchs Dickicht zu streifen – wir wissen nicht einmal, jedenfalls nicht ohne letzten Zweifel, ob ein Baum durch die Augen einer Hirschkuh noch in etwa so aussieht wie durch unsere, ob dort überhaupt etwas steht, das wir als Baum bezeichnen würden oder ob es sich um ein gänzlich anderes Objekt handelt, wir nur nicht fähig sind, es zu erkennen; so wie zum Beispiel Bakterien, Viren, Milben und Pilze erst durch die Vergrößerung unter einem Mikroskop für uns sichtbar werden – und selbst dann sind es ja noch die menschlichen Augen, nicht etwa die einer Hirschkuh, die durch das Objektiv schauen.“

aus meinem Buch „Der lyrische Flaneur

Wurzelwerke

Inspirationen, Lyrik 23. März 2020

Hin und wieder schreibe ich Texte für den Grafiker Hellmut Martensen, der lange Zeit mein Kunstlehrer war. Überschattet vom Corona-Lockdown im März 2020 zeigt er in seiner Ausstellung »Gewachsenes« in der Galerie Hinter dem Rathaus in Wismar verschiedene Malereien und Grafiken, die sich mit Motiven der Natur beschäftigen. Unter anderem Kaltnadeldrucke von Wurzeln, die er studierte. Für seinen Katalog zur Ausstellung habe ich einen lyrischen Kleintext verfasst, der auf die Situation der im Tiefdruck dargestellten Wurzeln Bezug nimmt:

Wurzel I, Kaltnadelradierung auf Ingres-Papier, 21 x 25 cm, © H. Martensen
Wurzel II, Radierung auf Ingres-Papier, 21 x 25 cm, © H. Martensen

Zwei Jammerlappen

Ach, ich wäre so gerne dort unten, bei dir! Weit unter der Erde, dort bräuchte ich mich nicht länger nach der Sonne zu richten, hätte keinerlei Scham mehr wegen meines Aussehens, und den gierigen Bienen, die mir bald auch noch den letzten Nektar rauben, wäre ich ebenfalls nicht mehr ausgeliefert«, klagte die hoffnungslos herabblickende Blüte. Und die Wurzel entgegnete ihr, ebenso melancholisch, fast etwas hysterisch: »Ach, was weißt du schon von hier unten! Hier ist es schrecklich finster, weshalb ich nie sehen kann, wer auf mir herumtrampelt und ich weiß auch überhaupt nicht, was eigentlich aus all dem Wasser und den vielen Nährstoffen wird, die ich hier mühsam hinaufpumpe. Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wozu das alles eigentlich gut sein soll…« Ehe sie sich weiter bemitleiden konnten, setzte der Gärtner den Spaten an, schachtete die Pflanze aus und hob sie samt Wurzelwerk auf seine Schubkarre zu den anderen welken Arten. Stille.

Text: Christoph Krelle


Wurzel V, Kaltnadelradierung auf Ingres-Papier, 21 x 25 cm, © H. Martensen