Der Wert der Schaffenskraft

Warum Unternehmensgründer auch Kulturschöpfer sind

Identität, Innovation, Sozialisation – das Gründen eines Start-ups erfüllt kulturelle Funktionen.

Schriftsteller, Schauspieler, Musiker, Künstler – sie alle gelten als Kulturschaffende. Ihre Werke erlebt man als Kultur. Es gibt die Schreibkultur, die Theater- und Filmkultur, die Musik- und Kunstkultur. Und es gibt die Gründerkultur. Doch wie darf man den Begriff verstehen?

Dieser Artikel ist im September 2018 in DIE WIRTSCHAFT erschienen, der Wirtschaftszeitung der Lübecker Nachrichten. Jetzt die gedruckte Version als PDF herunterladen

Gründer bewegen sich als Akteure auf dem Markt. Sie gestalten ihn, indem sie neue Ideen, Lösungen und Produkte anbieten. Sie formulieren neue Preise. Dadurch entsteht Wettbewerb, der die Nachfrage verändert. Und schließlich nehmen sie mehr oder weniger Einfluss auf die Gesamtwirtschaft. Was hat das mit Kultur zu tun?

Das Wort Kultur kommt aus dem Lateinischen, abgeleitet von colere (pflegen, urbar machen), cultura und cultus (Anbau, Pflege und Veredelung von Ackerboden). Das Wort stammt aus der Landwirtschaft. Einerseits zeigt dies die Wurzeln der Kultur in der Wirtschaft, andererseits enthält es den Kern eines jeden Kulturbegriffs: das Hervorbringen und Erschaffen durch den Menschen. Man könnte also sagen, die Gründer gestalten nicht den Markt, sie pflegen und beackern ihn, indem sie neue Unternehmen und Produkte hervorbringen. Aber ist das dann schon Kultur?

Der Duden beschreibt Kultur mit „Kultivierung der menschlichen Betätigung“, was darauf hinweist, dass es hier nicht um etwas Kurzlebiges geht. Es soll vielmehr etwas über lange Zeit bewahrt werden – ein Kulturgut, das über Generationen gereift ist und weiter reifen soll. Ein solches Gut kann für die Gründerkultur in der Geschichte des Marktes liegen. In der historischen Entwicklung von Angebot und Nachfrage. Immerhin ist es nahezu undenkbar, die Geschichte des Marktes ohne zukünftiges Unternehmertum, ohne Gründer fortzuschreiben.

Der Markt, also das Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage, entstand einst durch Ackerbau und Viehzucht und das menschliche Bedürfnis, Waren und Informationen auszutauschen. Der Tausch wurde zu einem Vertrauen stiftenden Alltagsgeschäft.

Vertrauen als kultureller Wert – er spielt noch heute eine zentrale Rolle in der Wirtschaft, nicht nur bei Handelsgeschäften. Mithin lassen sich Freiheit, Gerechtigkeit, Sicherheit und Fortschritt als jene Werte beschreiben, die die soziale Marktwirtschaft ausmachen, und unsere Gesellschaft und Kultur prägen. So gesehen trägt jedes Startup, jeder Gründer diese Werte indirekt mit, schreibt sie für die Zukunft fort.

Nun hat sich der Begriff Gründerkultur genauso wie zum Beispiel
Esskultur oder Fankultur aus dem ursprünglichen Kulturbegriff entlehnt. Solche Begriffe gelten unter Geisteswissenschaftlern als bedeutungserweitert und sinnentleert. Dennoch lohnt es sich, einmal die Funktionen der Kultur zu betrachten, wie sie etwa der Schweizer Philosoph Emil Angehrn an der Universität Basel formuliert hat. Und dann ein paar erfolgreiche Gründer danach zu befragen, wie sie seit ihrem ersten Geschäftstag leben – man bekommt Antworten, die einem zeigen, wie gehaltvoll der Begriff Gründerkultur sein kann.

Kultur dient aus philosophischer Sicht der Selbstgestaltung des menschlichen Lebens. Sie dient der Selbstverständigung, also der Fähigkeit, sich selbst zu reflektieren und die eigene Identität neu auszuloten. „Mehr kann ich aus meinem Leben nicht mehr rausholen“, sagt Nadine Sydow aus Kiel. Sie schätzt die neu gewonnene Freiheit sehr. Die Biologin und ihr Geschäftspartner Peter Reders haben vor vier Jahren das Unternehmen Solvoluta gegründet, ein auf pestizidfreier Schädlingsabwehr spezialisiertes Start-up. Seit der Gründung sei Sydow gelassener geworden und traue sich mehr zu. „Ich habe früher dazu tendiert, es allen recht machen zu wollen.“ Die Erkenntnis, dass ein begründetes Nein niemanden „verprellt“, habe ihr Leben besser gemacht – eine persönliche Entwicklung, die sie unmittelbar den ersten Jahren ihrer Existenzgründung verdankt.

Kultur schafft Kreation und Innovation. Früher oder später muss sich jedes Start-up einmal fragen: Wie kreativ und innovativ sind wir, um am Markt bestehen zu können? Die beiden Gründer der Brainalyzed Finance GmbH aus Bad Bramstedt arbeiten an digitalen Lösungen, um diverse Abläufe mithilfe künstlicher Intelligenz kostengünstiger und energieeffizienter zu gestalten. „Wir wollen mehr, wir wollen die Gesellschaft voranbringen“,
sagt Gunter Fischer. Er beschreibt, dass viele Menschen oft ein ganz verzerrtes Bild vom Einsatz künstlicher Intelligenz haben: „Wie zu Zeiten der Industrialisierung wird es zwar viele Jobs kosten, aber durch die neuen Möglichkeiten, Produkte und Services, die die künstliche Intelligenz hervorbringt, müssen in Summe sogar noch mehr Jobs geschaffen werden.“ Das Team versucht immer wieder aufs Neue, dies Interessenten und möglichen Neukunden mitzuteilen. Sie eröffnen dadurch einen Diskurs, der die Vorteile und Chancen neuer Technologien thematisiert. Sie schaffen nicht nur kreative, innovative Produkte. Sie regen auch zur Selbstverständigung
und Identitätsbildung an, indem sie mit anderen über die gesellschaftlichen Chancen und Risiken des digitalen Wandels diskutieren.

Auch Nadine Sydow hat übrigens ein gesellschaftliches Anliegen:
„Ich möchte, dass Menschen, Tiere und Umwelt noch möglichst lange miteinander auskommen.“ Dafür sei jeder im Kleinen mitverantwortlich. Damit die Konsumenten eine Wahl haben, brauche es effektive Alternativen zu Tier- und Umweltgiften. „Wenn uns Pexagon gelingt, haben wir einen Meilenstein“, sagt sie. Dabei handelt es sich um eine ökologische Lösung, die Schiffe vor Bewuchs schützt, ohne Wasser- und Kleinstlebewesen abzutöten. Wie gehen wir mit unserer Umwelt um? Wie achtsam handeln wir gegenüber dem Leben als solches?

Einer, der sehr achtsam wirkt: Alexandro Pape, er ist Küchenchef und Gastronom aus List auf Sylt. Er ist Inhaber der Sylter Meersalz GmbH, betreibt eine eigene Bierbrauerei und hat eine eigene Bier- und Brot-Stube in Keitum. Er fühlt sich angekommen, hat seinen Platz in der Gesellschaft gefunden. „Da ich als Koch und Gastronom sehr nah am Gast arbeite, habe ich schon früh sehr direkt Bestätigung erfahren“, sagt er. Auch die beiden Michelin-Sterne, die er für seine Leistungen als Koch erhalten hat, haben ihm seinen Weg positiv bestätigt.

Doch der glücklich verheiratete Familienvater findet auch, „die Meinung der Gesellschaft darf nicht ausschlaggebend sein, um zu beurteilen, ob man ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft ist oder darstellt.“ Dass er seinen Platz als sinnvoll empfindet, liege daran, dass er sich die Dinge selbst erarbeitet hat – ein starkes Motiv für eine Existenzgründung, die man unter diesem Aspekt auch als gelebte Kultur beschreiben kann. Eine Kultur, die Werte und Sozialisation geschaffen hat.

Letztlich gleicht kein Unternehmen dem anderen, jeder Gründer ist anders, und auch deshalb ist die Unternehmensgründung mehr als ein ökonomischer Prozess. Sie ist kreative Schöpfung und hat ihren jeweils individuellen, ureigenen kulturellen Wert.

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