Viele Unternehmen in der klinischen Forschung beklagen einen Mangel an Fachkräften. Geeignetes Personal für klinische Studien zu finden, scheint immer schwieriger zu werden. Auch Kliniken berichten, dass die Rekrutierung von Fachkräften für klinische Forschung problematisch geworden ist. Wohin führt diese Entwicklung? Worauf muss sich die Forschung einstellen? Und wie kann es gelingen, den Fachkräftemangel zu bewältigen?
„Wenn klinische Studien aufgrund des Fachkräftemangels nur noch unter erschwerten Bedingungen in Deutschland durchgeführt werden können, dann wird die Innovationskraft der Gesundheitsbranche hierzulande erheblich geschwächt“, warnt Dr. Matthias Schier, Geschäftsführer des Vereins Forum MedTech Pharma e.V. in Nürnberg. Gleichermaßen führe dies zu Einbußen der Wirtschaftskraft und zur Schwächung der wissenschaftlichen Reputation. „Innerhalb der klinischen Forschung führt der Fachkräftemangel zu Überlastung, Motivationsverlust und zu geringerer Qualität bei der Durchführung und Dokumentation klinischer Studienprojekte“, erklärt Schier, der hierzu aus dem vereinseigenen Netzwerk, das über 7.000 Unternehmen, Institute und Kliniken aus Deutschland und Europa umfasst, schon vielfältige Berichte erhalten hat.
Dieser Artikel ist im August 2017 in der Fachzeitschrift für Clinical Research Professionals, CR pro, erschienen.
Bei den forschenden Pharmakonzernen scheint die Lage zum Glück noch nicht so ernst zu sein. Die Bayer AG in Leverkusen stellt zwar fest, dass „offene Stellen, insbesondere für Mediziner und Pharmazeuten, zeitnah schwierig zu besetzen sind“, wie Pressesprecher Markus Siebenmorgen mitteilt. Doch die Suche nach geeigneten Mitarbeitern scheint sich derzeit nur „in einigen Bereichen aufwendiger und langwieriger“ zu gestalten. Noch klarer formuliert es die Sprecherin Julia Löffelsend von der Unternehmensgruppe Boehringer Ingelheim. Für medizinische Fragestellungen im Zusammenhang mit der Projektarbeit bei klinischen Studien sucht der Pharmakonzern gezielt nach Humanmedizinern mit klinischer Erfahrung als Arzt oder Ärztin. „Diese Kandidatengruppe ist schwierig zu rekrutieren. Durch geänderte Aufgabenverteilung mit Fokussierung auf operationale Aspekte im Rahmen der Projektarbeit und Weiterentwicklung nicht-ärztlicher Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kommt es jedoch zu keinem Fachkräftemangel“, so Löffelsend.
Kein Fachkräftemangel in Pharmaindustrie
Unterdessen wird von Seiten des Verbandes Forschender Arzneimittelhersteller e. V. in Berlin bestätigt, dass dem Verband zuletzt kein Pharmaunternehmen signalisiert habe, „durch Fachkräftemangel im Bereich klinische Forschung in besonderen Schwierigkeiten“ zu sein. In der Pharmaindustrie gebe es grundsätzlich „keine neue Entwicklung in Reaktion auf Engpässe“. Wer also ist vom besagten Fachkräftemangel wirklich betroffen? Dass es in der klinischen Forschung „eher keinen Mangel an qualifizierten Wissenschaftlern“ gebe, befindet der VBIO in Berlin, Dachverband der Biowissenschaften in Deutschland. „Was fehlt, sind forschende Ärzte, also Clinical Scientists“, moniert Geschäftsführerin Dr. Kerstin Elbing. Seitdem die patientenbehandelnden Mediziner arbeitsmarktpolitisch gegenüber den wissenschaftlich forschenden Kollegen bessergestellt sind, sei es „immer schwieriger geworden, interdisziplinäre Teams mit einem ausgewogenen Mix aus Naturwissenschaftlern und Medizinern zusammenzustellen – obwohl dies in der stark interdisziplinär angelegten biomedizinischen Forschung sehr wünschenswert wäre.“
Einen Mangel an forschenden Ärzten kritisiert auch Prof. Dr. Michael Gebauer. Er ist Geschäftsführer der Cardiac Research GmbH in Dortmund. Sein Unternehmen ist als Site Management Organisation auf die Organisation und Durchführung klinischer Studien in den Fachdisziplinen Kardiologie, Herz-, Thorax- und Gefäßchirurgie spezialisiert. Er berichtet von „ganzen Fachabteilungen in Kliniken, in denen kaum noch Deutsch gesprochen wird.“ Dieses Symptom des Fachkräftemangels sei zwar regional höchst unterschiedlich, an weniger attraktiven Standorten zeige es sich aber schon. „Dort fällt es dann auch schwer, ein vernünftiges Fachgespräch zu führen“, beklagt er.
Dringend gesucht: forschende Ärzte und Monitore
Weiterhin gebe es einen Mangel an Klinischen Monitoren. „Vor 15 Jahren galt der Monitor noch als der Experte in einem Studienprojekt, der das Studienteam angeleitet hat.“ Inzwischen habe sich dieses Verhältnis umgekehrt: „Nun müssen häufig die Study Nurses den Monitoren bei ihren ersten Terminen erklären, wie die jeweilige Studie abläuft.“ Immerhin, einen Mangel an Study Nurses scheint es nicht zu geben: „Dieser Job scheint entsprechend attraktiv zu sein, sodass hier gutes Personal gefunden werden kann“, so Gebauer. Nichtsdestotrotz habe der erlebte Fachkräftemangel die Fluktuation schnell steigen lassen. Durch die „immer wieder notwendigen Einarbeitungen, die in dem komplexen Umfeld der klinischen Forschung entsprechend ressourcenintensiv sein können“, gehe mehr und mehr die Effizienz verloren.
Obwohl ein solcher Mangel an Fachkräften in der klinischen Forschung, wie ihn Herr Gebauer aus seiner Perspektive schildert, auch in vielen anderen Unternehmen, Kliniken und Instituten beobachtet und erlebt wird, müssen diese Phänomene nicht bedeuten, dass sie auch arbeitsmarktpolitisch einem Fachkräftemangel entsprechen. Jedenfalls nach der Definition der Bundesagentur für Arbeit liegt ein Fachkräftemangel erst dann vor, „wenn für offene Arbeitsstellen auch nach Ausnutzung aller Möglichkeiten keine geeigneten Arbeitskräfte vorhanden sind und dadurch die Auftragserledigung nicht mehr möglich ist.“ Ansonsten spricht die Agentur von sogenannten Fachkräfte-Engpässen, die in einzelnen Berufen und Regionen entstehen können – erst unter gewissen Umständen gelten diese als Anzeichen für einen drohenden Fachkräftemangel. „Nach einhelliger Meinung aller Erhebungsinstitute in Deutschland liegt in noch keinem Beruf und in keiner Region ein Fachkräftemangel vor“, erklärt hierzu Christoph Löhr, Pressesprecher der Bundesagentur für Arbeit.
Alle Möglichkeiten der Rekrutierung nutzen
Wenn ein Fachkräftemangel per definitionem also erst nach der vergeblichen „Ausnutzung aller Möglichkeiten“ der Personalbeschaffung vorliegt, lohnt es sich, einmal näher zu beleuchten, mit welchen Beschaffungsmaßnahmen die Arbeitgeber derzeit versuchen, ihre Stellen zu besetzen. Dabei steht außer Frage, dass ein großer Pharmakonzern grundsätzlich andere Ressourcen einsetzen kann als ein kleines mittelständisches Unternehmen in der klinischen Forschung. So warten die Bayer AG und die Unternehmensgruppe Boehringer Ingelheim mit umfassenden Employer-Branding-Strategien auf – sie zeigen Präsenz auf Mediziner- und Pharmazeuten-Kongressen, informieren Interessenten und Bewerber auf Karrieremessen und veranstalten hauseigene Karriereveranstaltungen, zu denen sie interessierte Studenten einschlägiger Fachrichtungen einladen. Sie betreiben eigene Karrierewebseiten, Blogs und Social-Media-Kanäle. Dagegen strebt die Cardiac Research GmbH als mittelständische Site Management Organisation grundsätzlich eher danach, das einmal gewonnene Personal zu halten, um die erfolgreiche Weiterentwicklung der Studienzentren zu gewährleisten. Das Unternehmen bietet seinen Mitarbeitern viele Fort- und Weiterbildungen an, die sowohl intern als auch extern durchgeführt werden können – ohne diese, ist sich der Geschäftsführer sicher, würde es noch schwerer fallen, gutes Personal zu gewinnen.
Was den Einsatz von externen Dienstleistern beim Employer Branding und bei der Rekrutierung angeht, so scheint Boehringer Ingelheim am ehesten auf die Leistungen anderer zu vertrauen: „Wir arbeiten bei der Besetzung von schwierig am Markt zu findenden Positionen mit externen Executive-Search-Agenturen zusammen“, erklärt Löffelsend. „Teilweise haben wir uns auch beim Employer Branding von externen Consulting- und Kreativagenturen unterstützen lassen.“ Die Bayer AG lässt sämtliche Maßnahmen des Personalmarketings vom hauseigenen Bayer Talent Marketing entwickeln. „Unser internes Recruiting-Team unterstützt die Fachbereiche effektiv bei der Personalbeschaffung. Nur in Einzelfällen arbeiten wir dabei mit ausgewählten Headhuntern und Personalberatungen zusammen“, so Siebenmorgen. Die mittelständische Cardiac Research GmbH hat indes gelernt, sich selbst zu vertrauen: „Wir haben insbesondere beim Recruiting vereinzelt mit Personalberatern zusammengearbeitet. Dies erschien uns im Nachhinein aber weniger sinnvoll“, erinnert sich Gebauer. Gerade die Personen, die über diese Wege rekrutiert wurden, seien tendenziell sogar schneller wieder gewechselt. „Das ist bei den nicht zu unterschätzenden Kosten für eine Vermittlung dann doppelt ärgerlich.“ Auch beim Employer Branding setzt der Betrieb auf interne Kompetenzen.
In Zukunft immer weniger verfügbares Personal
Laut der jüngsten Fachkräfteengpassanalyse der Bundesagentur für Arbeit, veröffentlicht im Dezember 2016, gibt es vor allem auf Expertenebene sowohl in der Humanmedizin als auch in der Pharmazie in vielen Bundesländern Engpässe. Allerdings wurde in der Studie der Bereich „klinische Forschung“ nicht separiert, sodass hierzu keine Zahlen darüber vorliegen, ob und in welchem Ausmaß diese Forschung betroffen ist. Zumindest geht aus einer internen Statistik der Agentur für Arbeit hervor, dass die im Rahmen der Vermittlung verfügbaren Bildungsgutscheine zur Weiterbildung als Klinischer Monitor in den letzten sechs Jahren „vermehrt ausgestellt worden sind und die Größenordnung seitdem beständig geblieben ist.“ Wurden im Jahr 2010 bundesweit nur 46 solcher Bildungsgutscheine ausgestellt, sind es im Jahr 2016 schon 203 Gutscheine gewesen. „Stichprobenartige Überprüfungen haben ergeben, dass knapp mehr als die Hälfte der Kunden entweder unmittelbar oder mittelbar im Anschluss an die Weiterbildung eine Integration in den Arbeitsmarkt erzielen konnten“, fügt Löhr erklärend hinzu, „jedoch in den wenigsten Fällen direkt in der klinischen Forschung.“ Dies zeigt, dass jedenfalls bei den Arbeitsuchenden durchaus Interesse besteht, eine Position in der klinischen Forschung zu finden. Doch der Einstieg scheint schwierig zu sein – auch weil viele der forschenden Betriebe nach erfahrenen und hoch qualifizierten Mitarbeitern suchen, wie CR pro in der Mai-Ausgabe berichtete.
Und natürlich wählen die Arbeitgeber ganz genau aus, wen sie einstellen – so, wie sich auch die Arbeitnehmer aussuchen, bei wem sie arbeiten wollen. Dabei wird der Druck, einen geeigneten Partner zu finden, vor allem auf Seiten der Arbeitgeber in Zukunft weiter stark steigen. Denn „das Erwerbspersonenpotenzial wird sich bis zum Jahr 2030 von derzeit 45,8 Millionen auf 42,2 Millionen um 3,6 Millionen reduzieren“, wie es aus Kreisen der Agentur für Arbeit heißt. „Die personenstarken Beschäftigungsjahrgänge gehen in den nächsten zehn bis 25 Jahren in Rente.“ Für die Arbeitgeber in der klinischen Forschung bedeutet dies vielleicht mehr als für andere, „jetzt geeignete Strategien für eine vorausschauende Aus- und Weiterbildungsplanung zu entwickeln, um mittel- bis langfristig über kompetentes und belastbares Personal zu verfügen.“
Bei der Unternehmensgruppe Boehringer Ingelheim hat das Talentmanagement schon heute „einen besonderen Stellenwert als Teil unserer Unternehmensstrategie“, so Löffelsend. Sämtliche Weiterbildungen finden beim rheinland-pfälzischen Pharmakonzern vornehmlich betriebsintern statt. Für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Forschungsabteilungen der Bayer AG ist es ebenso möglich, sich untereinander auszutauschen, voneinander zu lernen und in der konzerneigenen Akademie an Kursen teilzunehmen. „Trotzdem wird es auch künftig erforderlich sein, von außen neue Mitarbeiter mit spezifischen Kenntnissen und Erfahrungen zu rekrutieren“, stellt Siebenmorgen klar. Auch die Cardiac Research GmbH hat erkannt, dass „eine ständige Weiterentwicklung der Mitarbeiter angesichts der sich rapide verändernden Anforderungen in der klinischen Forschung unerlässlich ist.“ Die Agentur für Arbeit bietet übrigens eine Beratung zur Qualifizierung von Beschäftigten in kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMU) an, um ein systematisches und vorausschauendes Weiterbildungsmanagement in den KMU zu etablieren.
Klinische Forschung attraktiver machen
Was die Nachwuchsgewinnung für die klinische Forschung betrifft, ist Gebauer höchst zuversichtlich: „Ich glaube, dass die Erwartungshaltung der jungen Generation der klinischen Forschung sogar in die Karten spielt“, sagt der Chef des Dortmunder Site-Management-Unternehmens. „War die Arbeitsaufgabe ja schon immer ein Grund, sich für eine Stelle zu interessieren und ihr treu zu bleiben, so scheint dies ja schon bei der Generation Y noch einmal deutlich ausgeprägter zu sein.“ Und die klinische Forschung habe im Vergleich zu den angrenzenden Bereichen der Gesundheitswirtschaft sehr viel zu bieten. Bei den Pharmakonzernen scheint es derweil differenzierte Auffassungen darüber zu geben, wie es gelingen kann, jüngere Arbeitnehmer für sich zu gewinnen. Während sich Boehringer Ingelheim mit verschiedenen Arbeitszeitmodellen, Home-Office-Optionen und Weiterbildungsmöglichkeiten attraktiv macht, verweist die Bayer AG unter anderem auf ihre globale interne Stellenbörse für spannende Flexibilität bei der Personalbesetzung und den individuellen Entwicklungsdialog mit dem jeweiligen Vorgesetzten. Zudem sei noch das Betriebliche Gesundheitsmanagement der Bayer AG erwähnt, das allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern helfen soll, ihre Gesundheit langfristig zu erhalten. Darin seien etwa zahlreiche Vorsorgeuntersuchungen, kostenlose Grippeschutzimpfungen und eine psychosoziale Beratung für Familienangehörige enthalten. Außerdem nimmt der Konzern dieses Jahr an der bundesweiten Kampagne „Erhol Dich gut“ teil, die im April unter der Schirmherrschaft des bekannten Mediziners, Comedians und Bestsellerautors Dr. Eckart von Hirschhausen startete.
Keine Frage, derartige Rundum-sorglos-Pakete können sich nur wenige Arbeitgeber in der klinischen Forschung leisten. Trotzdem dürfen sich alle davon inspirieren lassen – ein bisschen kann in jedem Betrieb getan werden. Oder um es abschließend noch einmal mit den Worten des Herrn Dr. Schier vom Verein Forum MedTech Pharma e. V. zu sagen: „Klinische Forschung muss wieder attraktiv werden.“ Er ist dafür, dass in Kliniken die noch immer fehlenden strukturellen und finanziellen Voraussetzungen für die Forschung geschaffen werden – „wenn möglich, mit entsprechender politischer Unterstützung in Form von Strukturfördermaßnahmen.“ Wahrscheinlich ist dies derzeit die entscheidendste Stellschraube, mit der die vielerorts erlebten Engpässe nach und nach bewältigt werden können.