Ohne Absicht, keine Führung

Was bedeutet es, ein Pferd zu führen? Wie kann es ohne Körperkontakt gelingen, eine Verbindung aufzubauen? Was zeichnet die Kommunikation mit Pferden aus? Und sind gute Reiter gleichzeitig auch gute Führungskräfte? Ein Erlebnisbericht von Christoph Krelle, freier Mitarbeiter bei PFERD+SPORT

Giraldillo und Piccolo galoppieren durch die Reithalle. Staub wirbelt auf. Die beiden Wallache spielen miteinander, necken sich und treiben sich an. Ihre Reaktionen sind schnell, wirken intuitiv, fast unkontrolliert. Erst als Jana Bahrenhop, Tierheilpraktikerin und Reittherapeutin zu ihnen geht, beruhigen sie sich – als würden sie genau wissen, dass die nächste Trainingsstunde bevorsteht.

Diese Reportage ist im März 2018 in dem Magazin PFERD+SPORT erschienen, dem offiziellen Organ für Züchter, Reiter und Pferdefreunde in Schleswig-Holstein und Hamburg. Jetzt die gedruckte Version als PDF herunterladen

Die 28-jährige hat schon als Kind mit dem Reiten angefangen. Seither interessiert sie sich für die klassische Dressur und die grundlegende Bodenarbeit. Mit ihrem Unternehmen „EquiCor – mit Pferden sein“ hat sie sich einen Traum erfüllt. In ihrem Seminar „Führen lernen mit Pferden“ auf dem Krumbecker Hof, etwas nördlich von Lübeck gelegen, gibt sie bis zu dreimal im Jahr anderen Menschen die Chance, sich selbst und ihre Führungsqualitäten zu reflektieren. Ihr Angebot richtet sich nicht nur an Führungskräfte, Selbständige oder Angestellte in leitenden Positionen. Auch Auszubildende, Arbeitslose oder ältere Menschen kommen zu ihr, um mit den Pferden zu üben. Einige bringen Reiterfahrung mit, doch die sei keine Voraussetzung. „Bei Führungskräften ist es spannend, weil sie bereits Menschen führen“, erzählt Bahrenhop, doch dies müsse nichts bedeuten. „Im Grunde betrifft es jeden, der einen privaten Haushalt führt. Er muss sich strukturieren und einen Plan im Kopf haben – sich selbst führen können.“ Durch die Arbeit mit den Pferden könne man sich selbst besser verstehen lernen, seine eigenen Stärken und Schwächen im Umgang mit anderen erkennen und unmittelbare Einsichten in seine Führungspersönlichkeit gewinnen.

Bildhafte Vorstellungen

Diesmal sind vier Teilnehmer dabei. Zwei haben nur wenig Erfahrung mit Pferden, zwei noch nie persönlichen Kontakt gehabt – einer davon bin ich. Die erste Übung klingt kinderleicht: das Pferd am Strick durch die Reithalle führen. Jeder Teilnehmer darf die Übung nacheinander mit beiden Pferden durchlaufen. Ich beginne mit Piccolo, der etwas sensibler erscheint, und setze einen ersten Schritt – in der Hoffnung, er tut es mir gleich. Nichts passiert. Beim zweiten Versuch gebe ich ihm zusätzlich eine verbale Anweisung und ziehe am Strick, doch er regt sich nicht. „Was hast du vor?“, fragt Bahrenhop. „Ihn durch die Halle zu führen“, antworte ich. „Dann stell es dir vor“, gibt sie mir den Hinweis. „Erst wenn du es bildhaft vor Augen hast, wie ihr gemeinsam durch die Halle geht, wird er dir folgen.“ Und tatsächlich, beim dritten Versuch klappt es. Nach einer Runde versuche ich, den Wallach in den Trab zu bringen – es funktioniert, bis ich ihm an der nächsten Kurve unbewusst den Weg abschneide und er umdreht. Beim nächsten Mal lasse ich ihm mehr Raum – es funktioniert. Ein erfüllendes Erlebnis, so ein stattliches Tier durch die Halle zu führen. Im Anschluss wiederhole ich die Übung mit Giraldillo, der als deutlich impulsiver gilt. Beflügelt von meiner ersten Erfahrung mit Piccolo schenke ich ihm einen großen Vertrauensbonus, mit dem er jedoch gar nichts anfangen kann. Noch nach dem dritten Versuch habe ich keinen Erfolg. „Baue mehr Druck auf“, heißt jetzt die Empfehlung, „und halte deinen Rücken aufrecht!“ Ich fühle mich angespannt; noch immer bleibt das Pferd stur. „Er will heute nicht“, sage ich und reagiere mit einem trotzigen Verhaltensmuster, das gerade alles andere als förderlich ist. Ich atme tief durch, stelle es mir bildhaft vor, wie ich den Wallach durch die Halle geleite, gebe ihm ein verbales Kommando und ziehe am Strick. Er regt sich nicht vom Fleck, doch dann plötzlich springt der Funke über.

Wie wichtig es ist, eine klare Vorstellung davon zu haben, was wir mit dem Pferd erreichen wollen, erlebe ich während des Seminars noch häufiger. „Ich hatte auch schon Teilnehmer“, erinnert sich Bahrenhop, „mit denen wollten die Pferde partout nicht gehen. Sie reagieren immer sehr unterschiedlich auf die einzelnen Personen.“ Zu viel Energie und Anstrengung könnten genauso kontraproduktiv sein wie zu wenig. Sich auf das individuelle Pferd einzustimmen, sich einzulassen, sei das Entscheidende, wozu der Mensch jedoch auch bereit sein muss – er muss sich öffnen können. „Speziell Mädchen haben oft das Problem, dass sie die Führung zu schnell wieder verlieren, weil sie dem Pferd nicht wehtun wollen“, erzählt sie. „Das ist eine edle Einstellung, kann aber in übertriebener Weise schnell gefährlich werden, wenn es in brenzligen Situationen darum geht, dem Pferd eine Grenze zu signalisieren. Pferde sind als Fluchttiere auf eine zuverlässige Führung angewiesen“, erklärt sie. Dabei genieße das Leittier stets das größte Vertrauen, unabhängig von seiner physischen Überlegenheit. Demnach kann grundsätzlich auch der Mensch als „Leittier“ infrage kommen. „Sobald dieses weiß, was es will, wohin es geht und dies auch entsprechend ausdrückt, wird das Pferd seine natürliche Bereitschaft aufbringen, ihm zu folgen.“ Ein Pferd zu führen bedeutet also vor allem, angemessen mit ihm zu kommunizieren.

Drei Stufen des Drucks

Und erfolgreiche Kommunikation beginnt damit, sich über die eigenen Botschaften klar zu werden: Was möchte ich machen? Wo stehe ich? Wo steht das Pferd? Diese Fragen gelte es zunächst zu beantworten. Dann folge die Ausführung und eventuell eine Korrektur, wenn das Pferd die Führung übernommen hat, weil man vielleicht zu wenig auf das Pferd eingegangen ist, die Anweisungen unklar waren oder man sich zu wenig Respekt verschaffen hat. „Sehr Hilfreich ist es, genau auf die Ohren des Pferdes zu achten“, erklärt sie. „Wenn sie in eure Richtung schauen, könnt ihr davon ausgehen, dass sie euch zuhören und verstehen.“ Ob das Pferd auch danach handelt, was es verstanden hat, sei damit aber keinesfalls sicher. Zur Erinnerung: Menschen machen auch nicht alles, was man ihnen sagt. Die Gründe dafür können individuell verschieden sein. Das ist bei Pferden ähnlich.

Generell empfiehlt Bahrenhop, mit drei Druckstufen zu arbeiten, will man ein Pferd zu einer Handlung bewegen. Die erste Stufe enthält eine bloße Bitte, die noch recht ruhiger Natur bleibt. Die zweite Stufe enthält eine ernste Aufforderung, die auch gerne laut und mit Nachdruck ausgesprochen werden sollte. Die dritte Stufe bedeutet, die gewünschte Handlung beim Pferd einzufordern, sie also auch durch einen physischen Kontakt, zum Beispiel durch das Ziehen am Strick oder Schieben am Körper, anzuregen. Diese dritte Stufe solle jedoch die letzte Wahl bleiben – nachdem alle Bemühungen der vorigen Stufen mehrfach erfolglos waren. „Mein Anspruch, den ich vermitteln möchte ist, dass das Pferd durch die Arbeit mit dem Menschen strahlender wird, eine stärkere Persönlichkeit bekommt und sich wohlfühlt“, betont Bahrenhop. Es sei wichtig, ein Pferd nach jeder Handlung zu belohnen, am besten mit einer zärtlichen Berührung.

Die zweite Übung besteht darin, einen Parcours mit verschiedenen Stationen und Hindernissen zu bewältigen. Unter anderem gilt es, einen Slalom zu durchlaufen, das Pferd gezielt nach links und rechts, aber auch rückwärts zu bewegen. Inzwischen fällt es allen Teilnehmern leichter, auf die Pferde einzugehen. Die nächste Herausforderung ist für mich, Giraldillo mit den Vorderbeinen auf ein rechteckiges Podest zu stellen. Ich führe ihn selbstbewusst am Strick und gehe zielsicher auf die Station zu. Kurz bevor er mit der ersten Hufe das Podest betritt, drehe ich mich um – aus Sorge, er könnte nicht richtig treffen und sich dabei verletzen. Was passiert? Giraldillo bleibt abrupt stehen. Für ihn sind meine Sorge und die ihm zugewandten Schultern die eindeutigen Signale, sofort anzuhalten. Das Podest betritt er nicht. Dann versuche ich, ihn wieder in Bewegung zu bringen, doch er stoppt. Meine Sorge, er könnte sich verletzten, sitzt offenbar tief. Schließlich gehen wir gemeinsam weiter, ich schaue mich nicht um – dennoch bewegt er sich an dem Podest vorbei. Er spiegelt mich ehrlicher als ich es nach außen bin. Ganz ähnlich verhält es sich im Anschluss mit Piccolo. Auch bei ihm schaffe ich es zunächst nicht, ihn auf das Podest zu stellen. Immerhin mit einem Huf und später beim wiederholten Mal mit beiden Beinen. Das hat Nerven gekostet – für mich wohl mehr als für die Pferde, denn sie haben nur auf meine Signale reagiert. Wäre ich nicht so zögerlich gewesen und hätte ihnen einfach blind vertraut, wären sie direkt auf das Podest getreten. Im Nachhinein betrachte ich es als ein anschauliches Beispiel dafür, was passiert, wenn eine Führungskraft die Arbeit ihrer Angestellten ständig kontrolliert – sie werden unsicherer, trauen sich weniger zu, weil sie nicht wissen, ob es richtig wird. Zu viel Kontrolle, die ja immer auch einer gewissen Angst entspringt, bringt nichts weiter hervor, als noch vorsichtiger und unsicherer zu werden.

„Letztes Mal hatte ich eine Teilnehmerin“, erzählt Bahrenhop, „die recht forsch gewesen ist. Das wusste sie aber auch und hat das Problem geäußert, dass sie andere Menschen häufig überfährt.“ In einer Partnerübung habe die Frau ein Pferd geführt, an dem sich hinten noch ein Mann mit verbundenen Augen festhielt und mitlief. Dabei habe sie wenig Acht auf ihn gegeben. Er wiederum hätte das Problem gehabt, dass er nicht Nein sagen konnte. Das Tempo war ihm eigentlich zu schnell, doch er verhielt sich leise. „Schlussendlich stieß er mit den Füßen gegen ein Hindernis und stolperte. Da kamen deren beider Themen sehr gut zum Vorschein“, schmunzelt sie. Daraufhin zu analysieren, wie genau es zur Eskalation kam und zu überlegen, welche Möglichkeiten es gibt, wie die Teilnehmer hätten anders agieren können, ist Bahrenhops Anliegen. In einem individuellen, erweiterten Coaching würde dazu jede einzelne Übung gefilmt und hinterher ausgewertet.

Mit konkreten Vorstellungen

Im letzten Teil des Seminars trainieren wir bewusst die nonverbale Kommunikation: physische Präsens und mentale Stärke. Wir gehen nach draußen ins Freie. Wieder dürfen wir sowohl mit Giraldillo als auch mit Piccolo üben, doch diesmal ohne angebundenen Strick. Die erste Aufgabe: den Platz des Pferdes einnehmen. Eine Übung, die nach einer kurzen Zeit eigentlich allen recht gut gelingt. Die zweite Aufgabe: das Pferd in den Trab bringen und dazu bewegen, im Kreis zu galoppieren, ohne es zu berühren. Einziges Hilfsmittel: der Strick, den wir nun in die Luft schwingen dürfen, um etwas Druck auszuüben. Das Besondere auch hier: Ohne eine genaue Vorstellung, ohne eine Absicht folgt das Pferd den Anweisungen nicht. Nicht nur bei mir selbst beobachte ich, dass der größte Druck nichts bringt, wenn die Richtung unklar ist. Einmal ist mir sogar erlaubt, das Pferd ausnahmsweise zu berühren, es leicht anzuschieben, doch es bleibt einfach stehen. „Was möchtest du tun?“, fragt Bahrenhop. „Ich möchte Giraldillo ins andere Eck bewegen“, antworte ich inzwischen zögerlich. Es tut sich noch immer nichts. „Und wie möchtest du, dass er dir folgt?“ Diese Frage bringt mich schließlich dazu, eine Vorstellung davon zu entwickeln, wie er von selbst ins andere Eck trabt, ohne dass ich noch weiter etwas tue. Er setzt einen ersten Schritt. Er folgt meiner Idee, meiner mentalen Anweisung – sie war es, die bei allen Anweisungen zuvor noch fehlte. Ich liefere sie nach und das Pferd reagiert sofort. Ein magischer Moment. Harmonischer verläuft die Übung im Anschluss mit Piccolo. Nun endlich habe ich begriffen, von Anfang an mehr auf meine Gedanken, meine Vorstellungen zu achten. Tatsächlich habe ich so deutlich weniger Druck aufbauen müssen. Es hat letztlich genügt, in der Mitte zu stehen, das Pferd mit den Augen zu verfolgen, den Strick gleichmäßig durch die Luft zu schwingen und mich um die eigene Achse zu drehen, solange ich wollte dass Piccolo sich bewegt. Dann beende ich die Übung und möchte den Wallach zur Ruhe bringen, sodass er mir ganz entspannt folgt – entgegengesetzt zur vorangegangenen Aufgabe. Er trabt noch eine Weile, wird langsamer, will aber nicht stillstehen. Ich dagegen stehe sofort. Innerlich bin ich aber noch immer aufgewühlt. „Entspanne dich, schüttele dich aus, lockere dich“, erhalte ich die Empfehlung. Ich beuge mich nach vorne, wedle die Arme umher und schüttle die Beine aus. Das Pferd macht es mir auf seine Art nach und schnaubt. Wir lachen. Als ich das Feld verlasse, folgt mir Piccolo noch, obwohl ich schon gar nicht mehr damit gerechnet habe. „Glückwunsch, du hast einen neuen Freund gefunden“, höre ich den Assistenten von Bahrenhop loben. Die anderen Teilnehmer applaudieren. Und ich beginne zu verstehen, welch enormen Unterschied es macht, mit einer klaren Absicht, einer konkreten Vorstellung zu führen – das erleichtert einfach alles.

Ob ein guter Reiter auch eine gute Führungskraft ist? Nach meinem Erlebnis würde ich die Frage mit Ja beantworten. Doch Bahrenhop bleibt skeptisch. Es gebe viele Reiter, die sich für gut halten, aber sehr unkonzentriert und mit ihrem Pferd völlig überfordert sind. Was also ist ein guter Reiter? „Jemand, der sein Pferd anatomisch korrekt reitet, es körperlich fördert und respektvoll behandelt, damit es keine Schäden bekommt – dies alles beachtet und zusätzlich sehr gut fokussiert ist, der wird tendenziell jemand sein, der auch Menschen gut führen kann“, sagt sie. Ein schwieriger Transfer, dessen Ideal aber durch beharrliches Üben erreichbar scheint.

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